Bildung ohne Gesicht
5. Februar 2020Es geht um nur ganz wenige Frauen und Mädchen in Deutschland. Vermutlich ist die Zahl zweistellig. Und doch hat das Urteil des Oberwaltungsgerichts Hamburg eine scharfe Debatte ausgelöst. Überraschende Fronten ergeben sich: Feministinnen finden sich zum Teil auf derselben Seite wie die politische Rechte wieder. Und besonders zerrissen in dieser Frage sind die Grünen.
Das Hamburger Gericht hatte am Montag der Mutter einer Schülerin Recht gegeben. Danach darf ihre 16-jährige Tochter auch mit Nikab am Unterricht teilnehmen. Die Schulbehörde wollte sie vom Unterricht ausschließen. Vollverschleierungen wie Nikab und Burka verhüllen bis auf die Augen das ganze Gesicht.
Die Richter berufen sich in ihrem Urteil vor allem auf die "vorbehaltlos geschützte Glaubensfreiheit", welche die Schülerin in Anspruch nehmen könne. Ein Eingriff in diese Freiheit sei nur mit einer "hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage" möglich; diese fehle im Hamburgischen Schulgesetz.
Jedes Land hat sein Schulgesetz
Da das Bildungswesen in Deutschland Ländersache ist, muss jedes einzelne Land Gesetze für seine Schulen und Hochschulen erlassen. Im niedersächsischen Schulgesetz heißt es etwa seit 2017: "Schülerinnen und Schüler (...) dürfen durch ihr Verhalten oder ihre Kleidung die Kommunikation mit den Beteiligten des Schullebens nicht in besonderer Weise erschweren." Eine Vollverschleierung ist damit verboten. Schüler in Bayern dürfen ebenfalls "ihr Gesicht nicht verhüllen, es sei denn, schulbedingte Gründe erfordern dies".
Auf Bundesebene gibt es ebenfalls Regelungen. So dürfen Bundesbeamtinnen und Soldatinnen ihr Gesicht im Dienst nicht verhüllen. Für die Bürger gilt etwa, dass sie sich beim Autofahren nicht vollverschleiern dürfen. Nikab oder Burka müssen ebenfalls abgelegt werden, wenn Behörden die Identität einer Person prüfen. Ein allgemeines Verbot einer Vollverschleierung in der Öffentlichkeit gibt es in Deutschland aber nicht.
In anderen europäischen Ländern besteht ein generelles Verschleierungsverbot in der Öffentlichkeit, zum Beispiel in Belgien, Frankreich, den Niederlanden, Österreich und Dänemark.
Schnell die Lücke schließen
Die Lücke im Landesschulgesetz will nun der Hamburger Senat aus SPD und Grünen schließen. Schulsenator Ties Rabe von der SPD kündigte ein baldiges Verbot der Vollverschleierung an: "In der Schule gehört es sich, dass die Lehrerinnen und Lehrer, die Schülerinnen und Schüler ein offenes freies Gesicht haben, nur so kann Schule und Unterricht funktionieren."
Hamburgs Zweite Bürgermeisterin, Katharina Fegebank von den Grünen, schließt sich dem an: "Burka und Nikab sind für mich Unterdrückungssymbole." Bedeutsam ist ihre Position auch, weil die Hamburger am 23. Februar eine neue Bürgerschaft wählen. In den Umfragen liegen die Grünen nur knapp hinter der SPD, Fegebank kann sich also Chancen auf das Spitzenamt im Stadtstaat ausrechnen. Die Opposition aus CDU, FDP und AfD in der Bürgerschaft ist ebenfalls für ein Verbot von Nikabs und Burkas im Unterricht.
Andere Länder ziehen nach. Im grün-schwarz regierten Baden-Württemberg kündigte CDU-Kultusministerin Susanne Eisenmann ebenfalls ein Verbot durch eine Anpassung des Schulgesetzes an. "Der Unterricht basiert auf einer offenen Kommunikation, die sich auch in Gestik und Mimik ausdrückt. Ein verhülltes Gesicht verhindert diese offene Kommunikation."
Die Religionsfreiheit habe ihre Grenzen, wenn sich Lehrer und Schülerinnen "im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr ins Gesicht schauen können". Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann pflichtet ihr bei: "Ich finde, dass man in einer offenen Gesellschaft sein Gesicht zeigen muss."
Verbot wäre Bildungshürde
Solche eindeutigen Aussagen sind bei den Grünen nicht selbstverständlich. Wie ihre Hamburger Parteifreundin Fegebank sehen zwar auch Baden-Württembergs Spitzengrüne Sandra Detzer und Oliver Hildebrand in Burka und Nikab "Unterdrückungssymbole". Gleichzeitig werfen sie der CDU-Kultusministerin Eisenmann aber vor, "Themen nachzulaufen, die letztlich nur die Rechten stärken".
Filiz Polat, die migrationspolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion, findet hingegen, es zeichne eine demokratische Gesellschaft aus, religiöse Symbole zu tragen oder auf sie zu verzichten. Die Verfassung lässt in ihren Augen ein generelles Verbot nicht zu. Auch sei es verfassungsrechtlich geboten, dass der Staat gläubigen Musliminnen nicht den Zugang zum Bildungssystem durch ein Verschleierungsverbot verwehrt. Genauso hatte auch die Grünen-Fraktion im schleswig-holsteinischen Landtag argumentiert, als sie ein Vollverschleierungsverbot an Hochschulen ablehnte.
Gefahr der Ausgrenzung
Ähnlich differenziert sieht es Bernhard Kempen, der Präsident des Deutschen Hochschulverbandes. Für ihn ist es undenkbar, dass vollverschleierte Frauen an Seminaren mit ihren kleinen Gruppen teilnehmen. Vorlesungen sind für ihn aber etwas anderes. Dagegen würde der Philologenverband Nikabs und Burkas nicht nur aus allen Schulen, sondern auch aus den Hochschulen verbannen.
Seyran Ates, Frauenrechtlerin und Mitbegründerin der liberalen Berliner Ibn-Rushd-Goethe-Moschee, würde im Interesse des Schulfriedens gern alle religiösen und weltanschaulichen Symbole aus der Schule verbannen, nicht nur islamische. Die Islamwissenschaftlerin Riem Spielhaus warnt unterdessen, eine Ausgrenzung von Burka- und Nikab-Trägerinnen fördere die Radikalisierung von Muslimen. Stattdessen solle man das Gespräch mit ihnen suchen.
Was bleibt, ist die sehr geringe Zahl vollverschleierter Frauen in Deutschland. Deshalb sieht zum Beispiel der Stadtstaat Bremen auch keinen Anlass, sein Schulgesetz zu ändern. Es gebe keinen einzigen bekannten Fall, daher müsse man auch kein Gesetz ändern, so die Bremer Schulbehörde.