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Nazis raubten Identität und Kindheit

23. November 2018

Tausende polnische Kinder wurden während der deutschen Besatzung 1939 bis 1945 entführt und zwangsgermanisiert. Die von DW und Interia.pl dokumentierten Schicksale wurden jetzt auf einer Konferenz in Krakau präsentiert.

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Geraubte Kinder

Kaum ein anderes Thema in der deutsch-polnischen Geschichtsforschung weist so viele weiße Flecken auf wie der Raub der Kinder. Dass bis zu 200.000 polnische Kinder von den Nazis nach Rassekriterien ausgesucht, geraubt und zwangsgermanisiert wurden, ist vielen Menschen in beiden Ländern gar nicht bewusst.

Eine Konferenz mit Zeitzeugen, Wissenschaftlern und Journalisten an der Universität in Krakau - ein gemeinsames Projekt der Deutschen Welle und dem polnischen Portal Interia.pl - hat nun die Schicksale der Betroffenen dokumentiert.

Der Kinderraub in den besetzten Ländern

Bereits 1938 erklärte SS-Reichsführer Heinrich Himmler: "Ich habe wirklich die Absicht, germanisches Blut zu holen, zu rauben und zu stehlen, wo ich kann." In den später besetzten Ländern wurden Kinder daraufhin ihren Eltern entrissen oder aus Waisenhäusern geraubt. Die Auswahlkriterien waren blaue Augen und blonde Haare, entsprechend der Idealvorstellung Hitlers vom "Arier". Für die Zwangsgermanisierung der Kinder war der SS-Verein "Lebensborn" zuständig.

Begegnung mit Zeitzeugen

Barbara Paciorkiewicz wurde 1942 vom deutschen Jugendamt im besetzten Lodz unter dem Vorwand einer ärztlichen Untersuchung von ihrer Familie weggenommen und in eines der "Lebensborn”-Heime im besetzten Polen verschleppt. Später fand das vierjährige Mädchen eine liebevolle Pflegefamilie in Lemgo, Westfalen. Aus Barbara Paciorkiewicz wurde Bärbel Rossmann. Die deutschen Behörden haben sich darum bemüht, den geraubten Kindern neue Identitäten zu verleihen und die wahre Herkunft auch gegenüber den neuen Pflegeeltern zu vertuschen.

Polen Konferenz Geraubte Kinder in Krakau Barbara Paciorkiewicz
Barbara Paciorkiewicz: als 4-Jährige entführt und im "Lebensborn" zwangsgermanisiertBild: DW/M. Sieradzka

Ein Trauma fürs Leben

1948 wurde Bärbel mit zehn Jahren nach Polen zurückgebracht. Es fiel ihr schwer, sich einzugewöhnen, ihre polnische Sprache beherrschte sie nur noch unzureichend. "Ich kam zu meinem Onkel nach Danzig. Das Erste, was er mir zeigen wollte, waren das ehemalige KZ Stutthof und die Spuren der deutschen Verbrechen. Und ich war doch Deutsche. Ich habe die Welt nicht mehr verstanden”, erzählte Paciorkiewicz unter Tränen während der Krakauer Konferenz vor Hunderten Teilnehmern.

Das wirkliche Trauma begann erst später, als sie als junge Erwachsene ihre deutsche Mutter wieder besuchte und seit dieser Zeit in Zerrissenheit zwischen zwei Identitäten lebte. "Das sitzt tief in mir, ich fühle mich oft einsam und minderwertig”, sagt sie. Das seien die Folgen der Nachkriegszeit, als sie von den polnischen Kindern als "Hitlermädchen” beschimpft und manchmal verprügelt worden sei.

Suche nach den Wurzeln

Auch Hermann Lüdeking leidet bis heute unter den späten Folgen des Kriegsschicksals. Er wurde aus einem Kinderheim in Lodz entführt. Sein Geburtsname Roman Roszatowski änderten die Nazis im Lebensbornheim "Sonnenwiese” in Kohren-Sahlis bei Leipzig. Hier wurde er Maria Lüdeking, eine NSDAP-Aktivistin, zur Pflege übergeben.

Seine Wurzeln kennt der 82-Jährige bis heute nicht. "Das beunruhigt einen schon", sagt er. Er engagiert sich im Verein "Geraubte Kinder - vergessene Opfer", der um eine Entschädigung für diese Opfergruppe kämpft. Bislang ohne Resultat.

Keine Entschädigung in Sicht

Das Bundesfinanzministerium schrieb 2013 in einer Stellungnahme: "Das Schicksal betraf im Rahmen des Kriegsgeschehens eine Vielzahl von Familien und diente der Kriegsstrategie. Es hatte nicht in erster Linie die Vernichtung oder Freiheitsberaubung der Betroffenen zum Ziel, sondern deren Gewinnung zum eigenen Nutzen. Hierbei handelt es sich um ein allgemeines Kriegsfolgenschicksal."

Das Kölner Verwaltungsgericht stellte im Juli 2018 fest, keine rechtlichen Grundlagen für eine Entschädigung gefunden zu haben. Die Bundesrepublik entschädige die NS-Opfer, die "wegen eines gesellschaftlichen oder persönlichen Verhaltens oder wegen besonderer persönlicher Eigenschaften wie etwa geistigen Behinderungen vom NS-Regime angefeindet wurden", erklärte das Gericht. Obwohl den geraubten Kinder ein "erhebliches Unrecht" angetan worden sei, erfüllten sie nicht die erforderlichen Kriterien, um eine Entschädigung zu bekommen. Lüdeking hat gegen das Urteil Klage erhoben.

Dicke Mauern

Polen Konferenz Geraubte Kinder in Krakau
Konferenz in Krakau: geraubte Kinder und ihre SchicksaleBild: DW/M. Sieradzka

Dorothee Schmitz-Köster, Literaturwissenschaftlerin und Autorin von mehreren Sachbüchern zur NS-Zeit, die sich seit 20 Jahren mit dem Verein Lebensborn beschäftigt, ist über die Entschädigungsdebatte entsetzt. Sie vergleicht sie mit der Diskussion um die Entschädigung für die Zwangsarbeiter, die nach einem "unglaublich mühsamen Prozess" endlich im Jahre 2000 mit der Gründung der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" endete.

Doch trotz des jahrelangen Zögerns sei die Lage damals dank der Einbindung der Industrie in die Stiftungsgründung einfacher gewesen als jetzt im Falle der geraubten Kinder. Die seien nämlich nicht in der Lage, Druck zu machen. "Es ist eine Schande, dass solche dicken Mauern hochgezogen sind, die auch nicht mit einer Geste niedergerissen werden können", sagt Schmitz-Köster im Gespräch mit der DW während der Konferenz in Krakau. Sie selbst hat sich vor zwei Monaten an Bundespräsident Frank-Walther Steinmeier mit der Bitte um ein Treffen mit den Opfern gewandt. Der Vorschlag werde analysiert, lautete die Antwort.

Vergessene Opfer

Laut Joanna Lubecka, Historikerin am Institut für Nationales Gedenken in Krakau, seien die geraubten Kinder "vergessene Opfer", weil sie zahlenmäßig als eine relativ kleine Gruppe erscheinen würden. Polnische Wissenschaftler sprechen von 200.000 Opfern. Diese Zahl kommt von Roman Hrabar, der von 1947 bis 1950 Bevollmächtigter der polnischen Regierung für die Rückführung der geraubten Kinder war. "Wenn wir von Opfern der deutschen Besatzung sprechen, dann ist von Millionen die Rede. Die Opfer der Zwangsgermanisierung kommen mir wie ein Bruchteil vor", so Lubecka.

Journalisten und Wissenschaftler aus beiden Ländern wollen den Austausch fortsetzen. Die von der DW und Interia.pl dokumentierten Schicksale sind in diesem Jahr in Polen unter dem Titel "Teraz jestescie Niemcami" ("Jetzt seid ihr Deutsche") als Buch erschienen. Die deutsche Ausgabe ist für 2019 geplant.

Porträt einer Frau mit kurzen blonden Haaren und blauen Augen
Monika Sieradzka DW-Korrespondentin in Warschau